Was den Menschen beeinflusst – und wie Verhaltensforschung dabei helfen kann
Horizont Artikel von Nora Halwax vom 27. Juli 2024
"Daten sind das neue Gold” lautet der Claim, der sich in der Kommunikationssparte bereits festgesetzt hat. Verkannt werden sollte aber nicht die Komplexität desjenigen, der die Daten füttert: des Menschen. „Data tells you the what – but you need behavioral science to tell you the why. And without the why, the what is sometimes not valuable”, appelliert etwa Rory Sutherland, Vice Chairman bei Ogilvy UK. Der Wissenschaftszweig der Verhaltensforschung existiert seit über 50 Jahren. Tech-Riesen und Beratungsunternehmen wie Google, Meta, Spotify, Netflix und PwC bauen (Applied) Behavioral Science Units auf. Daniel Kahneman und Vernon L. Smith wurden 2002 für ihre Prospect Theory mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, wonach etwa Menschen eher einen Verlust vermeiden oder minimieren möchten als einen Gewinn zu maximieren.
Ebenfalls einen Nobelpreis erhielt Richard Thaler für dieNudging-Theorie, nach der man Menschen dazu „anstupst“, etwas Bestimmtes einmalig oder dauerhaft zu tun oder unterlassen. Voreinstellungen und Defaults können hier ebenso zum Zug kommen wie entsprechende Produktinformation und Warenpräsentation.
Nicht nur Preis und Qualität
Das einstige Bild der Homo Oeconomicus als rationalem:r Agent:in wurde durch die Verhaltensforschung ins Wanken gebracht. Und doch scheint Behavioral Science zumindest in der österreichischen Kommunikationslandschaft noch nicht flächendeckend im großen Stil angekommen zu sein. Aus den verhaltenswissenschaftlichen Experimenten kämen laufend neue Erkenntnisse, die noch überraschend wenige Organisationen systematisch für sich nutzen würden, meint auch Alexis Johann, Executive Behavioral Designer & Managing Partner bei dem Unternehmensberater Fehr Advice &Partners Austria. Andere Einsichten würden im Marketing wiederum breit eingesetzt, etwa das Wissen um die Faktoren bei Kaufentscheidungen, bei denen rationale Argumente wie der tatsächliche Preis oder die Produktqualität weniger eine Rolle spielen.
Laut Alexis Johann, Executive Behavioral Designer & Managing Partner bei Fehr Advice& Partners, gibt es aus der Verhaltensforschung 'laufend neue Erkenntnisse, die überraschend wenige Organisationen systematisch für sich nutzen'. Foto: Wolfgang Fürst
Vielmehr werde die Intuition bzw. das Bauchgefühl durch den Kontext beeinflusst, schildert Johann. Es gehe etwa um die Frage, welche alternativen Produkte der:die Konsument:in beim Kauf als Referenzpunkte im Auge habe, und wie die Preiswahrnehmung verschoben werden könne. „Wenn ein Kunde bei Starbucks sechs Euro für den beliebten White Chocolate Mocha zahlt, dann hatte er wohl nicht den Wiener Melange im Café um 4,20 Euro als Vergleichspunkt im Kopf, sondern wurde durch drei Bechergrößen mit asymmetrischen Preisabständen zur teureren Variante verführt.“ Bei Booking.com wiederum werde der Kaufabschluss durch Verknappung beschleunigt, denn „drei andere Kunden sehen sich auch gerade dieses eine Zimmer an“.
In der Politik sei es gang und gäbe, durch das Verschieben des Kontextes die Wahrnehmung von Botschaften ins Positive oder Negative zu verschieben. „Wenn der Bundeskanzler derzeit von einer ,schwächelnden Wirtschaft‘ spricht, vermeidet er bewusst die Worte ,Krise‘ oder ,Stagnation‘, die negative Emotionen hervorrufen würden“, skizziert Johann.
'Großes Potenzial im DACH-Raum'
„Wir sind überzeugt, dass die Anwendung von Einsichten und Methoden der Behavioral Science in den kommenden Jahren weiter stark zunehmend wird“, betont Torben Emmerling, Schweizer Verhaltensforscher sowie Gründer und Managing Partner von Affective Advisory, gegenüber HORIZONT. Das Beratungsunternehmen ist spezialisiert auf verhaltenswissenschaftliche Strategie- und Politiklösungen. Seit vergangenem Jahr ist sie Teil der europäischen Kommunikationsagentur Team Farner. Die Science Unit zählt Unternehmen wie Novartis, Takeda und Zurich Insurance ebensozu ihren Kunden wie die Kantone Zürich und Zug, das Schweizer Bundesamt für Energie sowie das Bundesamt für Gesundheit.
„Da der angelsächsische Raum bereits schnellere Fortschritte in Richtung einer stärkeren Verflechtung von Wissenschaft und Praxis auf diesem Gebiet gemacht hat, erachten wir das Potenzial im DACH-Raum als besonders groß.“ Durch technologischen Fortschritt und internationalen Austausch seien die Möglichkeiten für eine Einbindung in der Strategie, Politik und Kommunikation einfacher als je zuvor. Angewandte Verhaltenswissenschaften würden Kund:innen im privaten und öffentlichen Sektor belastbare Erkenntnisse darüber erlauben, wie Menschen entscheiden, warum sie so entscheiden und wie Entscheidungen verantwortungsvoll beeinflusst werden können. „Routinen, das, was Menschen habituiert machen, ist eine der wichtigsten Determinanten für zukünftiges Verhalten“, bringt es Emmerling auf den Punkt.
'Hier stehen wir, insbesondere im deutschsprachigen Raum, gerade am Anfang', prognostiziert Verhaltensforscher Torben Emmerling, Gründer & Managing Partner, Affective Advisory. Foto: Affective Advisory
'Das wird auch KI nicht abnehmen'
Die Behavioral Science sei nach mehreren Dekaden keine neue Wissenschaft, merkt auch Emmerling an. Dennoch erlebe ihre bewusste Integration erst langsam mehr Ansehen. „Viele Praktiker:innen nutzenverhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse ohnehin bereits lange bewusst oder unterbewusst im Marketing und in der Kommunikation.“
Dem Modell des Homo Oeconomicus, das von dem Menschen als rein rationales und egoistisches Wesen ausgeht, das nur seinen eigenen Nutzen maximieren will, widerspricht auch Kristin Hanusch-Linser, Co-Präsidentin der International Advertising Association Austria. In Wahrheit sei der Mensch hochkomplex, emotional und oft irrational, beeinflusst von sozialen Normen und Erwartungen. „Wir sind eben keinesfalls die perfekt informierten Roboter, die nur auf unseren persönlichen Vorteil aus sind. Das wird uns auch die beste KI nicht abnehmen.“
Verlustaversion bis Glücksrad
Wer Werbung sage, meine immer auch Beeinflussung, hält Hanusch-Linser fest. Das alte Modell vernachlässige die wichtige Rolle von Emotionen bei diesen Entscheidungsprozessen. Richard Thaler habe bewiesen ,dass Menschen oft irrational handeln und von kognitiven Verzerrungen beeinflusst werden. „Dieses Wissen nutzen wir nun auch in der Werbung. Das ist nichts Böses und auch nichts Manipulatives, sondern ein höchst effizientes Wissen, das es uns erlaubt, uns besser im täglichen Entscheidungsdschungel zu orientieren. Im Marketing sind diese Prinzipien so alt wie die Menschheit selbst.“
Sie hätten nur seit ihrer wissenschaftlichen Belegbarkeit „fancy Namen“ bekommen, wie Scarcity, Anchoring, Social Proof, Loss Aversion, Zero Price Effect, Storytelling. „Sie klingen natürlich auf Deutsch weit weniger sexy“, so Hanusch-Linser, und meint damit den Verknappungseffekt („Nur noch 2 Zimmerverfügbar!“), Ankereffekt („Ursprünglich 200€, jetzt nur 100€!“), die soziale Bewährtheit („95% unserer Kunden empfehlen dieses Produkt“), Verlustaversion („Verpassen Sie nicht diese einmalige Gelegenheit, 50% zu sparen!“), Hervorhebung von Gratis-Angeboten („Kostenloser Versand bei Bestellungen über 50 €“) und emotionales Storytelling (Weihnachtstruck von Coca-Cola).
„Wir wollen eben verführt werden und das ist doch eine zutiefst menschliche und auch irgendwie schöne Leistung, die gute Werbung tagtäglich erbringt.“ Auch ist es weiters wohl kein Zufall, dass Verbraucher:innen bei drei angebotenen Kaffeegrößen gerne die mittlere Größe wählen (Compromise Effect) oder sich leichter für eine von zwei Optionen entscheiden, wenn eine dritte (vermeintlich schlechtere) Option hinzugefügt wird (Decoy Effect). Mehrerer Tricks bedient sich beispielsweise gern die chinesische Kaufplattform Temu, von Gamification-„Glücksrädern“ bis zum Mitläufereffekt.
'Das alte Modellvernachlässigt die wichtige Rolle von Emotionen', betont IAA Austria Co-Präsidentin Kristin Hanusch-Linser. Foto: Sabine Hauswirth
Geschwindigkeit & Kosteneffizienz
Warum die angewandte Verhaltensforschung in der heimischen PR-Branche in den vergangenen Jahrzehnten verhältnismäßig wenig präsent war, erklärt Jürgen Gangoly, Geschäftsführer de rKommunikationsagentur The Skills Group und ehemaliger Europa-Präsident des internationalen PR-Branchenverbandes ICCO, mit Monate bis Jahre dauernden wissenschaftlichen Forschungsarbeiten – und dementsprechenden Kosten. Erst die Digitalisierung und speziell die KI-unterstützte Anwendung würden die nötige Geschwindigkeit und Kosteneffizienz liefern.
„Wir setzen Simulationen, Kampagnen-Tests und Datenauswertungen heute in wenigen Wochen um. Der Einsatz von Behavioral Science finanziert sich dabei meist von selbst, da die Kommunikationsstrategien und -lösungen vor großen Roll-outs getestet werden können und insgesamt – wissenschaftlich und ökonomisch mess- und belegbar – schnellere und bessere Ergebnisse erzielt werden können.“ Die Skills Group gehört seit heuer wie auch Affective Advisory zum Team Farner und profitiert somit von der „schwesterlichen“ Expertise. So setze man diese bereits bei der Strategie-Entwicklung und beim Testen von Informationsansätzen und Kampagnendesigns ein.
„Überall dort, wo etwa Verhaltensänderungen großer Bevölkerungsgruppenangestrebt werden, zum Beispiel in den Bereichen der Gesundheitsvorsorge, Ernährung und des Klimaschutzes, kommt man mit der Nutzung von Behavioral Science effizienter und effektiver ans Ziel.“ Gangoly geht davon aus, dass der Einsatz von wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der Verhaltensforschung in wenigen Jahren zum Standard-Repertoire in der Kommunikationswirtschaft sowie Politik gehören wird.
'Der Einsatz vonwissenschaftlichen Erkenntnissen aus der Verhaltensforschung wird in wenigenJahren zum Standard-Repertoire in der Kommunikationswirtschaft sowie Politikgehören', ist Jürgen Gangoly, Geschäftsführer der Skills Group, überzeugt. Foto: skills.at / S.Philipp
'Kein Copy-Paste'
Messen lassen sich die Umsetzungen ähnlich wie bei Produkttests, so Gangoly: Nullmessungen, Placebo-Tests, Varianten- sowie Vorher-Nachher-Messungen, Verhaltensänderungen im zeitlichen oder regionalen Umfeld, in Unternehmen, an einzelnen Filial-Standorten als auch an konkreten Verkaufszahlen unterschiedlicher Produkt- und Serviceangebote.
Außerdem überprüfe man etwa die Anzahl von Kontaktaufnahmen, Beschwerderückgängen, Wiederholungsraten oder den Vergleich von Kurz- und Langzeitentwicklungen. Affective Advisory nutze beispielsweise einfache Test-Plattformen und KI-Modelle, um als komplex wahrgenommenen Experimenten und Datenanalysen zu begegnen, wie Emmerling ergänzt.
Herausforderungen im Behavioral Design verortet Johann etwa in der Austestung „in der jeweiligen Entscheidungsumgebung“. Copy-Paste funktioniere hier nicht. „Ein Beispiel: Wir haben in einem unserer Projekte einmal getestet, wie sich die Ehrlichkeit bei einer Schadensmeldung für eine Versicherung erhöhen lässt. Das geht sehr gut mit Framing. Allerdings hatten manche Framings auch einen erheblich negativen Effekt auf die Ehrlichkeit, etwa der Hinweis darauf, dass ein Gespräch aufgezeichnet wird.“
'Kann Widerstand vermindern'
Aus der Forschung des deutschen Verhaltensökonomen Armin Falk wisse man von der hohen globalen Bereitschaft der Gesellschaft, für den Klimaschutz einen finanziellen Beitrag zu leisten, nennt Johann als weiteres Exempel. Allerdings würden sie dieB eitragsbereitschaft der anderen unterschätzen, was für das tatsächliche Verhalten eine entscheidende Rolle spiele.
„Geht es also um scheinbar wenig beliebte Maßnahmen, wie die CO2-Bepreisung, ein Tempolimit von 100 auf Autobahnen oder den Bau von Windkraftanlagen, kann das ,Belief Update‘ über die Beitragsbereitschaft der anderen in Kombination mit weiteren Tools der Verhaltensökonomie den Widerstand gegen die Maßnahmensystematisch vermindern.“
'Ist nicht der Allheilsbringer'
Aus den Forschungen des Ökonomen Uri Gneezy wisse man laut Johann wiederum, welche teils zweideutigen Signale Mitarbeitende davon abhalten, ihre volle Leistungsfähigkeit abzurufen – das lasse sich in Unternehmen dafür nutzen, Anreizsysteme auszugestalten. Der Schweizer Wirtschaftswissenschafter Michel Maréchal habe erforscht, wie ehrlich sich Menschen im Alltag verhalten. Mit diesem Wissen könnten Versicherungen die angesprochene Ehrlichkeit bei Schadensmeldungen erhöhen.
Der schweiz-österreichische Ökonom Ernst Fehr habe zudem zum Thema Fairness herausgefunden, dass viele Personen das Gemeinwohl und die langfristige Entwicklung über die eigenen kurzfristigen Vorteile stellen. Dieses Wissen lasse sich sowohl in Unternehmen, etwa in Change-Prozessen oder bei der Ausgestaltung politischer Initiativen, einsetzen, resümiert Johann.
Behavioral Science sei „nicht der Allheilsbringer für alle Probleme“, meint Emmerling abschließend. „Aber jede Problemlösung sollte eine gewisse verhaltenswissenschaftliche Perspektive inkludieren, weil sie die Zielgruppenerreichung effizienter und messbarer macht. Hier stehen wir, insbesondere im deutschsprachigen Raum, gerade am Anfang.“